Die ´Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten` und das Internet; San Sebastian 2016

Gruß an San Sebastian:

Die Stadt mit ihren Räumen ist der Ort. Der Ort wird erschaffen durch die Zeit. Die Zeit prägt den einen Ort, der Stadt mit ihren Räumen ihren Stempel auf. Das Gewebe des Internet legt sich über die Stadt und erzeugt Zeit. Die Gleichzeitigkeit der Gegenwart ist im Netz nicht singulär möglich. Erst die Pluralität der Gleichzeitgkeit, die ´Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten` kann die Temporalität der Ereignisse in der Stadt, ihre Gegenwarten vor dem Horizont des Internet fassen. Denn alles ist verwoben, alles ist vernetzt.

Vortrag:

Der Vortrag gliedert sich in folgende Punkte:….

  1. Der Topos der ´Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen`
  2. Ungleichzeitigkeit
  3. Differenz
  4. Netz-Gegenwart
  5. Schöpferisches Werden
  6. Wirklichkeit im Internet
  7. Unterscheiden
  8. Ereignisse induzieren Ungleichheiten

 

Die Pluralität der Gleichzeitigkeit erlaubt, die Phänomene des Wirkens der Zeit durch das Gewebe des Internet zu erklären. Der Wirklichkeitsbegriff ist neu zu definieren. Es gibt die Möglichkeit, Realität als Realitäten, die in unserer Wahrnehmung erzeugt und durch unser Nervensystem erklärt werden, in die bereits vorhandenen Erfahrungen einzubauen. Damit sind wir vertraut. Definieren wir Wirklichkeit als ein Konglomerat aus beobachteten und beobachtbaren Dingen einerseits und andererseits aus virtuell erzeugten Realitäten, so erklärt sich uns der Begriff der vielen Gleichzeitigkeiten. 

  1. Der Topos der ´Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen`

Der von Ernst Bloch (1885-1977) in seiner Faschismusstudie Erbschaft dieser Zeit (1935) in Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geprägte Topos der ´Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen` soll als Anstoß für eine Analyse der Gleichzeitigkeit aufgenommen werden.

Blochs in den 1930er und 1960er Jahren für die (marxistisch fundierte) Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen vorgelegte Konzeption der Ungleichzeitigkeit markiert das Nebeneinander verschiedener Stufen gesellschaftlicher Entwicklung1. Die allgemeinen Probleme, die mit der Vorstellung von Ungleichzeitigkeit einhergehen, werden eindrucksvoll in den bekanntgewordenen Einleitungsworten des Kapitels zur Ungleichzeitigkeit in Erbschaft dieser Zeit sichtbar:

„Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, daß sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein. Je nachdem, wo einer leiblich, vor allem klassenhaft steht, hat er seine Zeiten. Ältere Zeiten als die heutigen wirken in älteren Schichten nach; leicht geht oder träumt es sich hier in ältere zurück.“ [Bloch 1962, 104].

Die Wurzel dieser Denkfigur liegt in der Produktion von Gleichzeitigkeit, gebunden an ein normatives Zeitmodell, welches, wie Achim Landwehr betont, in Differenz zu „Aspekte[n] des sozialen politischen, kulturellen oder sonstigen Lebens, die nicht mehr in die Zeit zu passen schienen“ [Landwehr 2012, 21] steht und dadurch in der Form der Ungleichzeitigkeit zutage tritt. Und er fährt fort: Gleichzeitigkeit ist hier an ein „einheitliches und raumübergreifend geltendes Zeitmodell“ [ebd.] gebunden. Ungleichzeitigkeit setzt, so gesehen, eine „gedachte Norm von Gleichzeitigkeit“ [Landwehr 2012, 2] voraus. In diesem Sinne erscheint uns jedoch die Vorstellung der ´Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen` in unserer heutigen komplexen temporalen Situation als nicht adäquat. Eine genormte Gleichzeitigkeit ist in der weltweit medialen Vernetztheit der Welt nicht möglich. Der unterschiedliche Grad der globalen Vernetzung, der unterschiedliche Zugang zum Netz machen eine singuläre Gleichzeitigkeit unmöglich. Helga Nowotny führt dazu aus:

„Zu meinen, dass die mediale Vernetzung zu einer Erhöhung der weltweiten Gleichzeitigkeit führt, und zu vermuten, die Globalisierung lasse Zeiten und Räume zu einer zu vernachlässigenden Größe zusammenschrumpfen, ist naiv. Tatsächlich führen die in manchen Bereichen von Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur obwaltenden Formen der Synchronisation gerade dazu, dass die sozialen und ökonomischen Ungleichheiten und divergierenden Zeiten wachsen.“ [Nowotny 1990, 10f.].

Wenn wir Gleichzeitigkeit im Plural denken, so erschließt sich uns eine Zeitlichkeit, welche, gebunden an Ereignisse, eine Gleichzeitigkeit der Zeiten, also Gleichzeitigkeiten denken lassen, welche in unterschiedlicher Ausdifferenzierung in Erscheinung treten. Bruno Latour spezifiziert:„Denn eine Zeitlichkeit für sich genommen hat nichts Zeitliches. […] Wenn wir das Klassifizierungsprinzip ändern, erhalten wir ausgehend von denselben Ereignissen auch eine andere Zeitlichkeit.“ [Latour 2008, 102].

  1. Ungleichzeitigkeit

Eine geschichtshistorische Einordnung des Topos der ´Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen` findet sich auch bei Reinhart Koselleck (1923-2006), der die problematischen Ursprünge des Ungleichzeitigkeitstheorems im Zusammenhang „unterschiedliche[r] Einstufungen geschichtlicher Abfolgen“ [Koselleck 1989, 123] im Rahmen der natürlichen Chronologie thematisiert. Die Pluralität unterschiedlicher Zeiten in ein und derselben Gegenwart ist für ihn ein Ansatz, den Plural divergenter Zeiten zum Ausdruck zu bringen und als Synonym für ´die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen` den Begriff ´Zeitgeschichten` einzuführen. ´Zeitgeschichten` verweisen bei ihm auf mehrere Zeitebenen verschiedener Dauer, unterschiedlicher Herkunft, die aber gleichzeitig vorhanden und wirksam sind. Die Einführung einer normativen Referenz, an der Gleichzeitiges und Ungleichzeitiges gemessen werden können, erscheint im Hinblick auf eine temporale Einordnung als notwendig gegeben.

Aus unserer Sicht ist es jedoch in Hinblick auf ein Zeitverständnis in der Globalität, welches Gleichzeitigkeit impliziert, ratsam, auf den Begriff der Ungleichzeitigkeit zu verzichten, und dafür Gleichzeitigkeit im Plural zu setzen. Der Topos der ´Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen` kann und muss für die Analyse des Phänomens Zeit und der Transformation der Zeitkonzepte gerade im Zeitalter der multimedialen Welt durch den Topos ´Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten` ersetzt werden. Achim Landwehr hebt hervor: „Die Kotemporalität als Gemeinsamkeit unterschiedlicher Verzeitungen“ [Landwehr 2012, 32] ist in der Bezogenheit ihrer Elemente konsekutiv.

Weiterhin ist nach Wolfram Drews zu bemerken: „die abwertende Konnotation des Begiffs Ungleichzeitigkeit“ [Drews 2008, 51, 53], welche das Präfix ´un` einbringt, ist nicht hilfreich Gleichzeitigkeit in dem darzustellen, wie sie durch den Gebrauch des Internet zutage tritt. Und Achim Landwehr hebt hervor: „derjenige, der von Ungleichzeitigkeit spricht, [muss] selbst in der Gewissheit leb[en] ´gleichzeitig` zu sein“ [Landwehr 2012, 25]. „Von der ´Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen` zu sprechen impliziert, gewollt oder ungewollt, die Ungleichzeitigkeit zu betonen, also das nebeneinander von Phänomenen, die aus welchen Gründen auch immer als nicht zusammengehörig verstanden werden.“ [Landwehr 2012, 19]. Elke Uhl spricht in diesem Zusammenhang von „einer inhärenten Paradoxie“ [Uhl, 2003, 58].

  1. Differenz

Doch wie soll die Differenz hergestellt werden? Die Konzeption von Zeit in ihren unterschiedlichen Formen temporaler Dauer und Rhythmisierung lassen unserer Meinung nach nur einen Sprachgebrauch zu, nämlich den der Gleichzeitigkeit. Dieser Begriff der Gleichzeitigkeit ist wesentlich in der Chronologie der gleichzeitigen Uhrenzeit verhaftet. Nutze ich hingegen den Topos ´der Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten`, so erweitere ich den gleichförmigen Uhrenlauf in eine Dimension der Paralellitäten und fordere die Transformation des Zeitbegriffes heraus. Zeit ist damit innerhalb ihrer Messbarkeit ein Konstrukt aus Erlebniszeit und einer Zeit, welche mit und neben dieser koexistent ist. Diese Art der Gleichzeitigkeit ist in ihrer Differenz zu sich und ihrer Umwelt die ´Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten` und formt den Raum, in dem sie sich abspielt. Nicht der Raum formt die Zeit, sondern die Zeit formt den dinglichen Raum.

Die Dinge sind die gesellschaftlichen und soziokulturellen Verhältnisse, die in der einen Zeit den einen Raum gestalten. In der Pluralität der gleichen Zeiten liegt die Differenz zu sich selbst. Wir erschaffen durch das Internet Räume, die verlässlich Zeiten konzipieren und umgekehrt. Wir konzipieren Räume, indem gleichzeitig sich Ereignisse entfalten, die different in der gleichen Zeit sind und doch der einen zählbaren Zeit angehören. Mit dem Begriff der ´Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten` sichere ich als Nutzer des Internet meine Eigenzeit, meine Erlebniszeit sowohl in den Räumen der realen Welt als auch in den Räumen der virtuellen Welt. Der differente Ereignishorizont ist weder im determinierten Raum noch in der chronometrischen Zeit fassbar. Erst die Überformung der Singularitäten in Pluralitäten ermöglicht uns im Zeitalter des Internet, einen Zeit- und Raumbegriff zu konzipieren, welcher der strukturellen Vielfalt und der ihr inhärenten Möglichkeitsexplosionen Rechnung trägt.

  1. Netz-Gegenwart

Es entspringt jeweils eine Gegenwart aus der angeschauten und erzeugten Realität. Es entspringt je eine Gegenwart aus der virtuell erzeugten Realität. Die sich darbietende Form der Zeit im Gewebe des Internet ist Gegenwart, gleichzeitige Gegenwart, damit eine Pluralität von Gegenwarten. Denn in dem rhizomatischen Gewebe der Datenströme und Verbindungen, der Kopplungen und Abbrüche kann eine Gegenwart als einzige nicht sein. Jede Kopplung, jeder Abbruch erzeugt als Ereignis Zeit und erzeugt seine eigene Zeit, Zeit in Form von gleich-zeitigender, sich aufbrauchender, sich aufeinanderlegender Gegenwarten. Niklas Luhman bringt die Begriffe der Gleichzeitigkeit und der Gegenwart in eine These und setzt damit systemtheoretisch Gleichzeitigkeit aus der Unterscheidung von System und Umwelt: „Alles, was geschieht, geschieht gleichzeitig. Gleichzeitigkeit ist eine aller Zeitlichkeit vorgegebene Elementartatsache.“ [Luhmann 2005, 98].

Die Voraussetzungen für diese ´Netz-Gegenwart` sind die charakteristischen Eigenschaften des Internet: eine hohe Diversität, Heterogenität und Komplexität in einem evolvierenden System mit einer außerordentlichen Offenheit und stetig steigender Ausdifferenzierung durch emergente Phänomene wie Selbstorganisation und Autopoiesis. Seine Möglichkeitsbedingungen sind extrem dynamisch, nicht zu kontrollieren, nicht vorhersehbar und von einem grenzenlosen Wachstum gekennzeichnet. Diese Netzeigenschaften haben Albert-Lászlo Barabási in seinem Buch Linked veranlasst zu fragen: „Was genau haben wir da entworfen?“ [Barabási 2003, 149]

  1. Schöpferisches Werden

Zeit ist ein schöpferisches Werden. Henri Bergson stellt diese Aussage in den Mittelpunkt seiner zeittheoretischen Betrachtungen. Deleuze schreibt sie fort. Beide suchen nach einer vom Raum unabhängigen Beschreibung der Zeit. Bergson kritisiert die Analogsetzung von Raum und Zeit mit den Worten:„Durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch sind Raum und Zeit auf die gleiche Ebene gestellt und wie Dinge derselben Art behandelt worden. Man untersucht dann eben nur den Raum, bestimmt seine Natur und seine Funktion und überträgt die gefundenen Ergebnisse auf die Zeit.“ [Bergson 2008, 24].

Mit der Einführung seines Begriffes der Dauer (durée) prägt Bergson der heterogenen Ereignisstruktur sich durchdringender und konstituierender Dimensionen aus virtueller Vergangenheit und aktualer Gegenwart den Stempel des Werdens auf.

Wenn ich die Wirklichkeit nach Bergson als Dauer definiere, gewinnt die Zeit in der Dauer Realität, doch eine Realität, die ich, bezogen auf das Internet, als virtuell zu bezeichnen habe. Es ist die Zeit der virtuellen Gegenwart, welche in der Dauer die Realität der realen Gegenwart ersetzt, austauscht, überlagert. Die Pluralität der Gegenwart ist ein Kennzeichen des Netzes. Entsprechend der Theorie des Rhizomatischen nach Deleuze und seiner Rezeption der Dauer nach Bergson ist es ein Ansatz, Wirklichkeit temporal zu betrachten und Gegenwart als ´Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten` zu bezeichnen.

  1. Wirklichkeit im Internet

Wirklichkeit ist für den Nutzer des Internet das Akzeptieren verschiedener Gegenwarten in ihrer Gleichzeitigkeit. Die Gleichzeitigkeit induziert die Gleichzeitigkeiten in sich ausformenden Qualitäten, aber eben im gleichen Zeitmodus. Die Interaktion im Netz schafft die Möglichkeit, verschiedene Gegenwarten zu erzeugen, die in der Gleichzeitigkeit neue Gleichzeitigkeiten produzieren und so im Prozess der Zeiterzeugung einen völlig neuen Zeitmodus, den der gleichzeitigen Gleichzeitigkeit, generieren. Helga Nowotny spricht in ihren Essay Eigenzeit in diesem Zusammenhang von Ko-Präsenzen, „technisch miteinander verbundene, öffentliche Zeit konstituierende subjektive Existenzen“ [Nowotny 1993, 29].

Was bedeutet diese These für unser Zeitverständnis? Wir erleben Zeit gleichzeitig, auch als gestaucht und gedehnt, als beschleunigt und verlangsamt. Dieses Ereignen im Sinne von Zu-eigen-machen (nach Heidegger), entkleidet das Phänomen Zeit seiner Mystizität und gibt uns die Möglichkeit das Internet als zeiterzeugend zu begreifen. Wir greifen in die Tastatur und bringen mit den Klicks Zeit hervor, indem wir sofort Verbindungen aktivieren, von denen wir teilweise keine Kenntnis haben, dass sie aktiv werden. Wir erzeugen Parallelität und erfahren Zeit unter unseren Händen. Es ist Zeit, die wir verbringen, Zeit, die wir verbrauchen und Zeit, die auf sich bezogen, sich ausformt in Abfolgen, die gewissermaßen in sich gestapelt sind.

Wir sprechen von Datenpaketen, die wir versenden. Wir sprechen von Datenströmen, doch der Fluss der Zeit ist nicht ein Strömen, sondern ein Auseinanderliegen von Gegenwarten. Sich damit auseinander zu setzen bedeutet, sich einer Realität zu versichern, die als virtuell zu bezeichnen ist. Wiederholung und Differenz (nach Derrida) sind in diesem Sinne zeiterzeugend. Derrida sieht Zeit als Wirklichkeitsphänome. Er bindet seine Zeittheorie an eine Erzeugung von Zeit, die sich aus Differenz und Wiederholung als wirklichkeitskonstituierend erweist, als eine Wirklichkeit, die sich so nicht mehr beobachten lässt.

  1. Unterscheiden

Alles Beobachten erfordert ein Unterscheiden. In seinem Werk Laws of Form (1969) postuliert George Spencer-Brown (*1923) : „Das heißt, eine Unterscheidung wird getroffen, indem eine Grenze mit getrennten Seiten so angeordnet wird, daß ein Punkt auf der einen Seite die andere Seite nicht erreichen kann, ohne die Grenze zu kreuzen. […] Wenn einmal eine Unterscheidung getroffen wurde, können die Räume, Zustände oder Inhalte auf jeder Seite der Grenze, indem sie unterschieden sind, bezeichnet werden.“ [Spencer-Brown 1979, 1].

Spencer-Brown führt dazu weiter aus, daß „sich der Zustand, den wir ins Auge fassen, nicht im Raum, sondern in der Zeit“ [Spencer-Brown 1979, 51] befindet. Der Aspekt der Zeit wird in diesem Zusammenhang auch von Luhmann betont, indem er das Vorhandensein der Grenzen als gleichzeitig betont, sie aber nicht als gleichzeitig benutzbar bezeichnet: Niklas Luhmann betont:„Die beiden Seiten sind gleichzeitig und in einem vorher/nachher Verhältnis gegeben. Als Unterscheidung sind sie gleichzeitig aktuell, als Referenz einer Bezeichnung nur nacheinander.“ [Luhmann 1993, 98]. Der Beobachter muss sich dabei deutlich machen, dass er in der Beobachtung nicht außerhalb des Systems steht, sondern immer Teil des Systems ist. Im temporalen Sinn

„kann es im Gleichzeitigen für den Beobachter kein Vorher und Nachher geben. Vergangenheit und Zukunft sind demnach als Elemente der Zeitlichkeit nicht per se gegeben. Vielmehr können Vergangenheit und Zukunft nur als Ergebnisse einer Differenzierung relevant werden, denn als komplimentäre Zeithorizonte sind auch sie nur gleichzeitig gegeben. Hiermit ist ein weiteres paradoxales Element angesprochen, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nämlich nur gleichzeitig beobachtet werden können.“ [Landwehr 2012, 30]

Diese Überlagerungen unterschiedlicher Konstruktionen von Zeit machen deutlich, dass es nicht möglich ist, von der Zeit schlechthin zu sprechen. Der Topos der `Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten` scheint uns gut gewählt, um auch den nichtlinearen, den zyklischen, den Wirbel der Zeit einzubeziehen und Zeitverhältnisse in der Vernetzung des Internet darstellen zu können. Die Pluralität der Gleichzeitigkeit durchzieht die Räume des Internet und erschafft Räume ständig neu.

Der Beobachter ist im Netz als Beobachter nicht kenntlich. Er ist gleichsam Beobachter und Akteur zugleich und im Überschreiten, im Kreuzen der Grenzen, wie Spencer-Brown es nennt, erzeugt er verschiedene Realitäten, die ohne sein Wirken sich aufeinanderlegen, und damit erzeugt er Realitäten, die er selbst nicht mehr als auf sich bezogen wahrnehmen kann. Er ahnt die erzeugten Welten als losgelöst von sich und sieht den Wechsel von einer Welt in die nächste als Wechsel von Realität zur Virtualität. Er kennt seinen Standort nicht mehr. Er kann den Ort nicht bestimmen, weil es den Raum nicht gibt, wo der Ort liegen könnte. Was bleibt, ist die Zeit als Koordinate unseres Seins. Doch wie wir festgestellt haben: die Zeithorizonte legen sich mit den erzeugten Wirklichkeiten übereinander. Also bleibt nur die ´Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten` und die Wirklichkeit der Gleichzeitigkeit.

  1. Ereignisse induzieren Ungleichheiten

Ereignisse induzieren Ungleichheiten und ihre zeitliche Dimension ist die Ungleichzeitigkeit. Mit dieser Aussage wollen wir unsere Plädoyer für die Ersetzung des Topos ´Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeiten` durch den Topos ´Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten` kritisch hinterfragen.

Helga Nowotny zeigt in ihrem Buch Eigenzeit (1989) auf, dass „die Ermöglichung einer approximativen Gleichzeitigkeit mit Hilfe der modernen Elektronik […] keineswegs zu einer sozialen Gleichzeitgkeit […] führt. Im Gegenteil, neue Ungleichheiten erwachsen aus Ungleichzeitigkeiten.“ [Nowotny 1993, 11]. Die Suche nach der approximativen Gleichzeitigkeit deckt die Ungleichzeitigkeiten der sichtbaren sozialen Systeme auf, die eine Gleichzeitigkeit als Gleichheit illusionieren. Doch die Dimension der sich darbietenden Gleichzeitigkeit setzt die gleiche Zeit durch Differenz zu sich selbst. Das bedeutet, dass die gleiche Zeit sich auflöst in sichtbare Aufeinanderfolgen von sich zeitigenden Strukturen, die einmal öffentlich und sanktioniert sind und zum anderen durch viele sichtbare subjektive Eigenzeiten aufsummiert werden, die Gleichheit durch die Telekommunikationsmittel suggeriert, aber Ungleichheiten erzeugt durch die Anwendbarkeit der wachsenden Annäherungen von Ko-Präsenzen.

Denn die Sicht auf die gleiche Welt in ihrer sozialen Ungleichheit in der gleichen Zeit offenbart ein Nebeneinander von Zeiten, die in sich different sind, zu einer gedachten Weltzeit, die jedoch nichts anderes ist als eine Illusion, wie Nowotny betont. Die Weltzeit ist die Zeit, welche sich als eine Aufsummierung der sichtbaren Eigenzeiten als „weltumspannende Gleichzeitigkeit“ [Nowotny 1993, 20]. darbietet. Doch es sind die Eigenzeiten, welche subjektiv sind, und in Differenz zur öffentlichen Zeit stehen. Die öffentliche Zeit, summiert sich zwar als sich zeitigende Zeit auf, (was an öffentlichen Ereignissen aufzusummieren ist), aber sie deckt sich nicht zu gleichen Teilen mit der subjektiven Zeit.

Somit kommt es zu Ungleichheiten, zu Diskontinuitäten und Unterbrechungen, welche eine zeitliche Dimension erhalten, nämlich die der Ungleichzeitigkeit. Diese ist im sozialen Raum anzusiedeln und der Ungleichzeitigkeit in Form der Ungleichheit Ausdruck zu verleihen. Der Begriff ist von Bloch auch in diesem Sinne eingeführt worden, wie wir eingangs beschrieben haben. Eine kontroverse Diskussion ist es also nicht, wenn wir der ´Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten` als Topus den Vorrang geben und doch der Ungleichzeitigkeit in der Form der Ungleichheit einen Standort zuweisen, der sich darstellt im sozialen Bereich. Es ist doch in der sichtbaren Vernetztheit der Bezüge zwischen den Menschen ein aufstrebendes Nebeneinander von Zeiten festzustellen, die sich auch unterscheiden in den Geschwindigkeiten des Gebrauchs der technischen Mittel. Henri Bergson beschreibt das so: „Den Weg , den wir in der Zeit durchlaufen, ist übersät mit den Trümmern all dessen, was wir zu sein begannen, all dessen, was wir hätten werden können.“ [Bergson 2013, 109].

Die Geschwindigkeit entscheidet letztlich über einen Eintritt des Ereignisses aus dem wachsenden Feld der angehäuften Ereignisse. Es ist die beschleunigte Folge, nicht als sukzessive, sondern als ko-präsente Ereignisfolgen, infolge von Vernetztheit und diachronen Ereignisauftritten. Das heißt: die Ereignisse sind in der einen Zeit potenziell vorhanden, doch es treten nicht alle ans Licht. Sie sind abhängig von der Geschwindigkeit, mit der die Durchlässigkeit der sichtbaren Horizonte durchbrochen werden kann und von der Wiederholbarkeit der Ereignisse in ihrer Bedeutung. Wiederholen heißt, ein Wiederkommen in der ereignisinduzierten Ungleichheit. Denn die Ungleichheit erlaubt, die Differenz zu bilden, die notwendig ist, um überhaupt gleiche Ereignisse als gleich wahrnehmen zu können. Das mag paradox klingen, doch die Herstellung der Differenz ist unabdingbar, um zu unterscheiden und in der Unterscheidung die Ereignisse als gleiche oder ungleiche zu erkennen. Denn das Überschreiten der Grenzen, wie Spencer- Brown sagt, ist die Voraussetzung zur Setzung des Begriffs. Und der Begriff unterscheidet die Dinge und macht mit dem Unterscheiden ihr Erkennen möglich. Und so ist auch der Topus der ´Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten` durch die Unterscheidung von der diachronen Zeit zu handhaben.

Abschließend ist festzustellen, dass es zu einer neue Differenzen erzeugenden Verwobenheit unterschiedlicher Ebenen von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit durch die Internet-Globalisierung kommt, (wenn sie auf unterschiedliche Kulturen trifft). Dann findet sowohl Gleichzeitigkeit als auch Ungleichzeitigkeit gleichzeitig statt. Vielleicht erzeugt gerade diese Verspleißung unterschiedlicher substanzieller wie artifizieller Temporalitäten diese Explosion der Zeitdimensionen im Netz.

Literatur

Barabási, Albert-Laszlo. (2003). Linked. How Everything Is Connected to Everything Else and  What It Means for Business, Science, and Everyday Life. Cambridge, Massuchusetts.

Bergson, Henri. 2008. Denken und schöpferisches Werden. In Klassiker der modernen Zeitphilosophie. Walther Ch. Zimmerli & Mike Sandbothe (Hrsg.). Darmstadt: WBG. 223-239.

Bergson, Henri. 2013. Philosophie der Dauer. Textauswahl von Gilles Deleuze. Hamburg : Meiner.

Bloch, Ernst. 1962. Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt am Main : Suhrkamp.

Bloch, Ernst. 1963. Tübinger Einleitung in die Philosophie Frankfurt am Main : Suhrkamp.

Drews, Wolfram. 2008. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen` als problem transkultureller Komparatistik am Beispiel frühmittelalterlicher Herrschaftslegitimation. In Comparativ 18, 2008, H3/4, 41-56.

Koselleck, Reinhart. 1989. Vergangene Zukunft.Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Koseleck, Reinhart. 2003. Zeitgeschichten. Studien zur Historik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Landwehr; Achim. 2012. Von der ´Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen`. Historische Zeitschrift , Band 295. Heft 1. August 2012. München: Oldenburg Verlag. 1-34.

Latour, Bruno. 2008. Wir sind nie modern gewesen.Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas. 2005. Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Wiesbaden : VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Nowotny, Helga. 1993. Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Uhl, Elke. 2003. Gebrochene Zeit? Ungleichzeitigkeit als geschichtsphilosophisches Problem.In Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien. Johannes Robeck/ Herta Nagl-Docekal (Hrsg). Darmstadt: WBG. 50-74.

 

Zusammenfassung

Der von Ernst Bloch (1885-1977) geprägte Topos der ´Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen` war für uns der Anstoß für eine Analyse der Gleichzeitigkeit in ihrer Pluralität. Das Phänomen Internet scheint uns in seiner Ausprägung von Gleichzeitigkeiten eine Herausforderung zu sein, den Topos ´Gleichzeitgkeit des Ungleichzeitigen` durch den Topos ´Gleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeiten` zu ersetzen. Dabei ist zu diskutieren, inwieweit durch die Internetglobalisierung Ungleichheiten Ungleichzeitigkeiten induzieren. Und es ist zu fragen, ob nicht gerade durch die Verspleißung unterschiedlicher substantieller wie artifizieller Temporalitäten die Explosion der Zeitdimensionen im Netz erklärbar werden.

 

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