Im Netz der Zeit – Das Internet im Spiegel der Ereignisphilosophie, Karlsruhe 2014

Vortrag Karlsruhe 2014 im Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) Aneignungs- und Nutzungsweisen Neuer Medien: Institution, Kreativität, Kompetenz

Konferenz in Karlsruhe 2.-4.11.2014

Im Netz der Zeit – Das Internet im Spiegel der Ereignisphilosophie, Karlsruhe 2014

Was hat die Medien-/Internetphilosophie zum Begriff Zeit beizutragen? Wird die nahezu alle Lebensbereiche durchziehende Vernetzheit durch das Internet in spezifischer Weise unsere Erfahrung von Temporalität verändern? Unter weitestgehender Aussparung soziokultureller und soziotechnischer Aspekte, welche in der durchgesehenen Forschungsliteratur die transdisziplinäre Diskussion bestimmen, soll auf der Grundlage der Ereignisphilosophie (Bergson, Deleuze, Heidegger, Whitehead) versucht werden, einen ereignisphilosophischen Ansatz für das Phänomen „Zeit“ im und durch das Internet zu finden. Eine umfassende Perspektive auf die zeitliche Verfasstheit des Internets existiert in der Forschungsliteratur bislang kaum.

Es wird ein doppeltes Forschungsinteresse verfolgt: Zum einen soll das Phänomen Internet auf den Aspekt Zeit hin fokussiert werden, und zwar in der Weise, dass Medialität und Temporalität als unterschiedliche Entitäten in ihren Verflechtungsverhältnissen (Zeit-Medium-Wahrnehmung) kritisch beleuchtet und diskutiert werden. Zum anderen soll die medieninduzierte Transformation des Phänomens Zeit in seinen Möglichkeitsbedingungen der Erzeugung von Wirklichkeit ein Leitgedanke sein.

Diese Aufgabenbestimmung erfordert die Untersuchung folgender Zentralperspektiven (andere werden im Laufe der Forschungsarbeit hinzutreten, Gewichtungen werden sich verschieben):

  • Virtualität – Realität, die Erzeugung einer Hyperrealität als Realität der Simulation.
  • Mensch – Maschine – Interface, Übertragung der alten metaphysischen Leib-Seele-Theorie auf das Internet?
  • Das Internet als Mittel, Medium, Milieu.
  • Die Transformation der Zeitmodi durch das Internet. Die ´Verflüssigung` der Gegenwart.
  • Die Transformation des temporal bestimmten Ereignisses durch das Internet/ die Beziehung von Zeichen – Symbolvermitteltheit.
  • Kreativität entfaltet sich in besonderer Weise im Internet und wirkt konstituierend                 auf die Zeitperspektiven.
  • Ein neues Verständnis von Zeit im Spannungsfeld von ereignisphilosophischer und medienphilosophischer Reflexion soll anknüpfend an die neueren Forschungen von JeanBaudrillard, Paul Virilio, Friedrich Kittler, Götz Großklaus, Mike Sandbothe, Antje Gimmler, Walther Ch. Zimmerli, Sybille Krämer, Hermann Lübbe, Hilary Putnam, Marshall Mcluhan, Kerstin Volland u.a. gefunden werden. Dazu wollen wir mit der Erarbeitung unserer „Philosophie der Leerstelle“ bezugnehmend auf das Internet beitragen. Der Ausgang ist offen: Mit Hieb und Stich, Karte-machen, nicht Kopie (Deleuze/Guattari) – das ist unser Ziel für die Bestimmung der Zeit im und durch das Internet.

Die folgenden zentralen Ausgangspunkte leiten hierbei unser Forschungsinteresse:

  • Der Mensch und das von ihm initiierte Internet erzeugen unhintergehbar Zeit. Das Sein ist die Zeit (Heidegger).
  • Das Internet erfährt durch die Leichtigkeit des Zugangs und seine globale Verfügbarkeit eine ununterbrochene Dynamik und Veränderung, die es hinsichtlich der Temporalität zu untersuchen gilt.
  • Die funktionale Einbindung des Mediums Zeit bringt einen Gegenwartsprimat hervor. Dieser ist zugunsten einer ´Verflüssigung` des Gegenwartsbegriffes zu relativieren.

Zu untersuchende Zentralperspektiven:

Imagination, Simulation, Fiktion, Virtualität – Realität

Es ist zu fragen: Wird durch die mediale Verfasstheit unserer Welt, die wir als real annehmen, eine Virtualität erzeugt, welche die vorgängige Realität ablöst? Kommt es durch Vertauschung von Realität und Virtualität zu einer Real-Virtualität und damit zu einer Hybridisierung der Wirklichkeit? Wie geht dieser Prozess vonstatten? Werden Imagination, Simulation, Fiktion, Virtualität die bestimmenden Elemente für unsere Wahrnehmungsformen von Zeit und Zeiterfahrung?

Inwieweit werden die Converging Technologies, welche die interdisziplinäre Zusammenarbeit in den Bereichen der Nano-, Bio-, Informations- und Cognitionstechnologien vorantreiben, das Internet zu einem alles durchdringenden Rhizom sich ausweiten lassen, das nicht nur universal kommuniziert, sondern vor allem auch handlungsmächtig und gestaltend in die Wirklichkeit eingreift? (Petsche).

Das Simulacrum als zentraler Begriff der Virtualität der durch die Medien bestimmten modernen Gegenwartsgesellschaft lässt die Unterscheidung zwischen Original und Kopie, Vorbild und Abbild, Realität und Imagination verschwinden (Baudrillard), und es kommt damit zu einer faktischen Auflösung der Differenzen (Deleuze, Virilio). Wird die Hyperrealität, als Realität der Simulation, das Bestimmende für unsere Zeiterfahrung? (Schetsche, Krämer, Baudrillard).

Der Cyberspace, als eine Form virtueller Realität (Münker), löst die Differenz zwischen Sein und Schein auf. Wir fragen: sind wir bereit eine Cybertime anzuerkennen und wie wird diese dann unser Zeiterleben und neue Zeitimplikationen bestimmen? Das Denken in der Temporalität eröffnet uns die Möglichkeit in der Verfasstheit von Ereignis die Validität solcher Seinszustände, wie sie sich im Internet entfalten, so zu denken, dass es möglich ist, Sein als Sein analog zu denken. Eine temporale Betrachtungsweise ist unserer Meinung nach der räumlichen Betrachtungsweise vorzuziehen, denn die Ereignisse entfalten ihre Wirkungen in unbeabsichtigter und unvorhersehbarer Weise, sie lassen sich nicht konfinieren, sie wirken in einer nichtlinearen Verknüpfung, sie sind virtuell aktiv (Nowotny).

Mensch – Maschine – Interface:

Lässt sich die alte metaphysische Leib-Seele-Theorie, wonach es einen Primat des Geistes gibt, auf das Internet übertragen? Körper als Hardware, Geist als Software – welcher Zusammenhang zwischen reflektierendem Denken und der Aktion und Reaktion im Internet besteht (Moravec), ist er temporal zu fassen? Die Maschine ist ein System, der Mensch ist ein System: Wird es ein Denken ohne Körper (Körper als menschlicher Körper, nicht als Hardware) geben? Kann es die Schaffung einer künstlichen Intelligenz geben? Denn der Zeitbegriff spielt für das reflektierende Denken durch die Dimension der zeitlichen Existenz des Menschen eine entscheidende Rolle (Putnam). Die Maschine, als extendierter Teil des Menschen, ist nicht nur reine Hardware, sondern sie zieht den Benutzer in die Maschine und macht ihn zu einem Teil von sich. Das Internet wird so zu einem Hybrid. Das Internet als Grenze, als Grenze zwischen Technik und virtueller Hülle. (Petsche). Wie ist diese im Spannungsfeld Mensch-Maschine temporal zu fassen? Welche Temporalitäten werden erzeugt? Welche Rolle spielt das ubiquitäre Computing, das die vertauschung von Realität und Virtualität auf die Spitze treibt? (Petsche, Weiser,).

Das Internet als Mittel, Medium, Milieu

Medium und Medialität

Warum ist es nötig, die Medialität im Medium Internet neu zu fassen und temporal zu bestimmen?

Die dreifache Dimension oder Perspektive der Medialität des Internets als Vermittlung in der Gestalt von Mittel, Medium und Milieu (Völz) erfordert neben der kommunikationstheoretischen Ausleuchtung und intrakulturellen Ausdifferenzierung neuartiger Lebensbezüge (McLuhan, Schmidt, Luhmann, Krämer, Erpenbeck/Heyse) auch eine technikzentrierte Umwertung (Bolz/Kittler/ Thola, Petsche). Der Einfluss, den die medientechnologischen Strukturen auf die menschlichen Zeitlichkeitsstrukturen ausüben (Virilio), tritt in den Focus einer medienphilosophischen Zeitbetrachtung. Diese hat sich nicht wie bisher an den kommunikationstheoretischen Ansätzen zu orientieren, sondern es ist für die Medialität des Internets ein ereignis- und zeitphilosophisches Denken einzuführen, welches in der Lage ist, das Internet in seiner Universalität, Globalität, Geschwindigkeit und (leichten) Verfügbarkeit als Zeitphänomen zu beschreiben (Petsche 2003).

Zeit wird destruiert/ die nomadisierende Präsenz

Die medieninduzierte Transformation unserer Zeitwahrnehmung führt zu einer Infragestellung der Zentralperspektive unseres Zeitdenkens. Zeit wird destruiert (Virilio) durch die nomadisierende Präsenz (Deleuze/Guattari, Deleuze) im Internet. Analoge Wahrnehmungs-verhältnisse des Menschen konkurrieren mit den digital erzeugten Zeitigungsstrukturen (Simulations­theorie von Kittler und Virillio). Die Inkommensurabilität der innerhalb und durch das Internet erzeugten Zeit fordert zu neuen Weisen der Beschreibung von Zeiterleben heraus. Der Fokus wird auf der Überlegung für eine Durchtrennung der Widersprüche von Erleben und Auslösen des Erlebten sein. Denn beides ist im Internet nicht mehr disparat.

Die Transformation der Zeitmodi durch das Internet

Gleichzeitigkeit und Werden

Um eine Internetspezifik der Zeit formulieren zu können, ist eine medienphilosophische Reflexion der Verflechtungen von Medium und Zeit, sowie von Medialität und Zeit zu untersuchen, wobei zwischen Medium und Medialität zu unterscheiden ist. Derrida fordert ein metaphysisches und phänomenologisches Zeitdenken und ein Weggehen vom Präsentismus bzw. vom Gegenwartsprimat. Er hat die Medialität mit den Begriffen der différance und Spur, als Entzug von Anwesenheit, als eine spezifische Zeitlichkeit entwickelt, und damit einen Zeitbegriff, welcher in der Medialität ein spezifisches Werden impliziert und damit die Prozessualität der gezeitigten Zeitigung ( Spur) präferiert. Gegenwart wird hier als Zäsur bestimmt. Er initialisiert Gegenwart als eine Intervallstruktur der gezeitigten Zeitigung. Nach Deleuze ist diese Prozessualität ´die Zeit selbst`.

Dieser Gedanke wird in unserer ´Philosophie der Leerstelle` eine Ausgestaltung erfahren. Gleichzeitigkeit wird bei McLuhan als Prozess gleichzeitiger Verzweigungen betont, welche die Grenzen zwischen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart aufheben. Damit schließt er an den Neurophysiologen Eccles an, der die neuronale Innenzeit als Gleichzeitigkeit modulärer Verknüpfungsnetze erklärt. McLuhan erweitert diese Sicht auf die technische Kommunikation und sieht darin eine Extension des menschlichen Zentralnervensystems, so wie er die Technologie als Extension des Menschen sieht.

Dieses technische Zeitverständnis findet sich auch bei Virilio und Kittler. Virilio vertritt eine These der radikalen Destruktion der Zeitsysteme und postuliert Zeitregime der reinen Geschwindigkeit. Er ersetzt die drei Zeitformen Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft durch zwei Zeitformen: die reale Zeit (Echtzeit) und die aufgeschobene Zeit und plädiert damit für eine mediale Destruktion unserer zeitlichen Basissysteme. In seiner Kritik an Virilio führt Kittler sein Konzept einer ´Simulationszeit` ein, mit welcher er die aufgeschobene Zeit bei Virilio ersetzen will. Baudrillard setzt die ´Phase der Entsimulierung` dagegen.

Der Gegenwartsprimat

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt wird die Untersuchung der Transformation der Zeitmodi zugunsten eines Gegenwartsprimates sein. Ist die These vom Primat der Gegenwart in dieser Schärfe überhaupt aufrecht zu erhalten? Es soll die Uneinheitlichkeit und Vielfältigkeit der Denkansätze diskutiert werden, um zu einem eigenen zeittheoretischen Ansatz für Zeit in und durch das Internet zu gelangen.

Hermann Lübbe spricht von einer „Gegenwartsschrumpfung“ durch eine Verdichtung von Gegenwart im Zusammenhang mit der Verkürzung von Fristen als rückläufiger Extension des Zeitraumes in einem gegebenen System und damit einer erlebten Zeitverknappung. Dieser Theorie widerspricht Großklaus, indem er fragt, ob in der technisch vermittelten Gestaltung der Gegenwart überhaupt noch von Gegenwart zu sprechen ist, und wenn ja, ob sie nicht als Dehnung der Gegenwart zu einem Feld im Sinne von ´Feld-Verdichtung` durch Synchronizität, als nichtlinear, sondern netzartig verzweigt, zu bestimmen sei. Wie auch bei Luhmann liegt hier der theoretische Fokus auf der Differenz zwischen Technozeit und Bewusstseinszeit und damit auf der Zeitlichkeit der Bezugssysteme, wobei Luhmann noch die Gegenwärtigkeit, in der allein etwas geschehen kann, punktuell zwischen Vergangenheit und Zukunft ansiedelt. Es wird deutlich, dass die Bestimmung des Zeitbegriffs abhängig davon ist, in welchen Begriffsfeldern er ausgeführt wird.

Die Transformation des temporal bestimmten Ereignisses durch das Internet. Die Beziehung von Zeichen – Symbolver­mitteltheit

Das Ereignis als Zeichen

In einer Weise wird das Netz selbst zum Ereignis. Wir fragen:

– Ist es erreichbar, dass es unsichtbare Zeichen wirklich in die Sichtbarkeit schaffen?

– Ist es möglich, all das, was das Zeichen aussagt, auch wirklich zu erfassen, oder sind verbergen und entbergen, wie in der Falte von Leibniz, rezipiert von Deleuze das, was das Zeichen ausmacht? Wie ist das Zwischen situiert?

Ist das Ereignis aus Zeichen konzipiert oder ist es selbst Zeichen? Was können wir bezeichnen? Es sind die Zeichen von Zeichen von Zeichen. Bild, Sprache und Schrift erfahren ständig neue Zuweisungen. Denn sie sind im Zwischen des Netzes. Der user ist Sender und Empfänger zugleich. Er ergreift die Möglichkeiten, erzeugt eine virtuelle Realität. Das Zwischen des Netzes ist eine menschengemachte Maschine ,im Sinne von ´Maschine-machen` nach Deleuze/Guattari einerseits, andererseits dienen die Strukturen nicht nur dem Zweck; unhintergehbar konstituieren sie eigene Wirkungen, die ihrerseits eigene Zwecke erfüllen, welche veränderlich und zukunftsoffen sind. Das zur Erscheinung Gebrachte ist die in der Differenz eingelassenen Spur aus Werden und Nicht-gewordenem, aus innen und außen, aus dem Spiel der Möglichkeiten. Welche Rolle spielt der Hypertext als Zuspitzung, als Verweisung?

Die mediale Transformation unseres Wirklichkeitserlebens und –verständnisses in Konfrontation mit der tradierten Denkweise des Menschen

Jede Epoche ist durch den Gebrauch und die Verbindung einer Vielzahl von Medien gekennzeichnet. Es ist zu untersuchen, inwiefern Verflechtungen und Implikationsverhältnisse im Internet und durch das Internet eine spezifische Umkonzeptionierung der Pluralität von Zeitvorstellungen zulässt und/oder vorantreibt. (Sandbothe).

Wenn wir Medium als etwas begreifen, wodurch etwas zur Erscheinung kommen kann, das etwas zur Erscheinung bringt (Kant), dann müssen wir anerkennen, dass das Medium Internet nicht als Substanz, sondern von seiner Bewegung her, das es durchläuft, zu fassen ist. Die sinnliche Wahrnehmung als Primat der Erkenntnis, ist ihr noch zu trauen, oder hinken wir hoffnungslos mit unserer tradierten Denkweise der transformierten Temporalität im Internet und durch das Internet hinterher? Es wird nicht mehr in den Zeitmodi erlebt, sondern die Zeit ist in erster Linie Technozeit versus Bewusstseinszeit. Technozeit ist Zeit, geronnen in der Erfüllung (Erstellung eines Werkzeuges, einer Maschine (Marx), der Weg bis dahin ist die Bewusstseinszeit. Beide Temporalitäten sind als eine Funktion des Subjektes aufzufassen. Die medienphiloso­phische Zeittheorie wird in der Literatur als transformationsbedürftig und transformations­fähig (Sandbothe) beschrieben. Ist das so? Die mediale Transformation unseres Wirklichkeitserlebens- und -verständnisses, unsere Wahrnehmungs­formen werden durch institutionelle und technische Entwicklungen ohne Zweifel durchgängig vom Menschen wechselweise mit seinen traditionellen Denkweisen in Konfrontation gebracht.

Die „Philosophie der Leerstelle“

Das Werden in der Zäsur

Die Zäsur ist für uns der Ort, besser der Zeitpunkt, wo die Gesamtheit der Zeit in ihrer dichtesten Form, in der Fülle ihrer Möglichkeiten versammelt ist. Die Bezeichnung ´Leerstelle` erscheint uns dann gut gewählt. Sie unterscheidet sich von Deleuzes Zäsur und fasst diese weiter. Wer die Zäsur wirklich verstehen will, sollte Zeit nicht als bloße Ordnung oder Reihe auffassen, sondern als Gänze, als Wirbelsturm, der spiralförmig die Zeitmodi aneinander vorbei gleiten lässt und die Fülle der Gesamtheit der Zeit gleichsam in der Leere des Auges des Sturmes versammelt.

Zeit ist ein Werden in einer Weise, die sich unabhängig von einem sich bietenden Spiel der Möglichkeiten vollzieht. Was soll das heißen? In diesem einen Moment gibt es Erhalt und Potenz, gibt es Stille und Sturm, gibt es Welt und Geist. In diesem einen Moment explodieren die Möglichkeiten. Aus dem Wirbel der Explosion steigt ein Gewordenes empor. Es ist. Damit trägt das Gewordene die Zeit in sich, denn Werden vollzieht sich, es schreitet voran, es wird gegenwärtig und bietet sich der Anschauung dar.

Die Verflechtung von Leere und Netz in der Temporalität

Ist die ´Leerstelle` die Zeit, in der sich alles entscheidet, größte Potenz und größte Fülle zugleich? Wird dieser von uns gewählte philosophische Ansatz, Ereignis als Zeit zu bestimmen, in Gänze Ereignis abbilden als Spiel der Möglichkeiten? Ohne Zweifel bietet diese Herangehensweise die Möglichkeit, Potentiali­tät, Internet und Ereignis temporal zu verbinden. Die Verflechtung von Leere und Netz in der Temporalität, scheint uns eine neue Denkstruktur zu sein. Wir möchten diese Art des Denkens mit der Wirkung der sich im Ereignis entfaltenden Zeit auf unsere Wahrnehmung untersuchen. In dem Begriff Zeit ist der gesamte Kosmos menschlicher Lebenswirklichkeit versammelt.

Ist es in der inneren Struktur der biomateriellen Voraussetzungen unseres Gehirns wirklich so, dass es als Netz fungiert (Deleuze), oder ist es nicht eher so, dass sich in der Matrix unserer sinnlichen Wahrnehmung ohne ein Zutun von Ursache und Wirkung eine Spur eingräbt, die in der Differenz von Sein und Nichtsein, das abbildet, was wir dann als Realität bezeichnen?

In der Anerkennung der ´Leerstelle` mit ihrer Potentialität, ihrer dichten Virtualität entwerfen wir ein Bild von Wirklichkeit, das wir nie ganz erkennen können, aber im Werden erfahren, mit seiner ungeheuren Kreativität. Das Werden ist Möglichkeit. Die Möglichkeiten sind in der ´Leerstelle` versammelt. Das Sein ist konzentriert in der ´Leerstelle` eingelassen. Es ist die Zeit, welche die ´Leerstelle` ausmacht. Ich situiere Zeit als Möglichkeit, als Ergreifen von Möglichkeiten.

Kreativität

Die Kreativität situiert Zeit

Ist die Differenz vom Eintreten ins Netz und dem sein im Netz nicht diejenige, die ereignisphilosophisch Kreativität erzeugt und damit das radikal Neue möglich macht? Hier scheint sich eine entscheidende Schnittstelle zwischen Internet, Zeit und dem Phänomen Kreativität aufzutun. Mit Whitehead können wir von dem metaphysischen Prinzip des Fortschreitens von der Getrenntheit zur Verbundenheit sprechen, wobei immer ein neues Ereignis erschaffen wird, das von den Getrennten sich unterscheidet. „Die vielen werden eins und um eins vermehrt.“ (Whitehead). Dieses Denken entspricht auch der Herangehensweise von Deleuze/Guattari: „Das Eine ist nur dann ein Teil der Vielheit, wenn es von ihr abgezogen wird.“ Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Zeiterfahrung durch den ´Zeitsog` im Internet virtualisiert, beschleunigt und dekontextualisiert wird, ist es doch von Interesse, in welcher Form die Ereignisbildung zutage tritt. Finden wir die Konfiguration des Ereignisses im Zwischen, das heißt in der Leerstelle, wo noch nichts ist, der Leerstelle mit all ihren durchscheinenden Rändern, dann erfahren wir vielleicht, warum und wie ein Ereignis aus dem Grund der Möglichkeiten auftaucht und sich realisiert und damit Zeit erzeugt: Das Ereignis ist die Zeit. Vielleicht können wir erweitern: Die Kreativität ist die Zeit?

Kreativität durch appräsente Präsenz

Was ist Kreativität? Kreativität ist nach Whitehead das „Prinzip von Neuen“. Das ist das Neue, das es bisher noch nicht gab. Diese Art Kreativität „meint die Transformation, das Durchbrechen, das Ersetzen alter durch neue Prinzipien, Regularitäten und Gesetzmäßigkeiten“. (Abel). Diese Bedingungen erfüllt das Internet in Gänze.

Die zeit-philosophische Analyse des Internets macht deutlich, dass sich im Netz sowohl gemeinschaftlich konstruierte Präsenzzeiten als auch die appräsente Präsenz, auch telematische Appräsenz, (nach Husserl – Appräsentation) von usern offenlegen. Wie beeinflussen sich diese Zeiten gegenseitig, verstärken sie sich, schwächen sie sich ab oder bringen sie gar eine ganz neue Art von Kreativität hervor? Es ist überhaupt zu untersuchen, inwieweit die Ereignisse durch ihre weltumspannenden Verflechtungen andere Temporalitäten erzeugen aufgrund der wirkmächtigen Kreativität, so wie sie nur im Netz sich entfalten kann. Pars pro toto (ein Teil für das Ganze) – das ist zeitigende Zeitlichkeit im Werden. Es ist anzuerkennen, dass sich in einem spiralförmigen Werdensprozess, im Internet, unabhängig von Hardware und Software ein Neues, Nicht-gedachtes, Nicht-vorprädikatives vollzieht.

Es ist die These zu stellen: Das Phänomen der Pluralität und Heterogenität unseres Seins durch die Transformation unseres Zeiterlebens wird in der Zukunft ganz andere Strukturen als das Internet hervorbringen. In Analogie zu den Forschungen der Quantenphysik (Prigogine/Stengers) wird die Philosophie eigene Forschungsfelder vordenken müssen, welche die naturwissenschaftlichen Untersuchungen beflügeln.

Ausblicke

Zu denken ist dabei an die Einführung unterschiedlicher Betrachtungsweisen von Zeit. Weg von einer nicht vorhandenen Wirklichkeit hin zu einer von Fiktion, Simultation und Virtualität durchsetzten Wirklichkeit als der einzig anzuerkennenden Realität. Ihre Ausdifferenzierung kann nur zeitlich erfolgen. Es ist also anzuerkennen, dass die Frage nach der Zeit eine immer größere Bedeutung zur Bestimmung unseres Seins erlangt. Die nächste Frage wird als die Frage nach der Durchdringung der Temporalität, des Pulses, in unser alltägliches Sein zu stellen sein. Diese kann mit der Ontologie und Phänomenologie der Medien beantwortet werden, indem ich zulasse, eingefahrene Denkstrukturen zu verleugnen und offen das Undenkbare denke. Auf die Spitze getrieben: Die These, dass wir in einer Virtualität leben, die rein temporal bestimmt ist, dass nichts so ist, wie es scheint, dass Sein als Sein auch Nicht-Sein ist, wird in der Zukunft zu belegen sein. Ein Weg dorthin ist, Sein auch als Zeit und Zeit als Wirkursache in ihrer Zwecksetzung, in ihrer Kontingenzbeschleunigung und Pluralisierung zu fassen im Schnittfeld der Mensch-Computer-Interaktivität. Jedes Medium schafft eine andere Weltsicht. Das Medium Internet mit seinen physikalischen Einheiten einerseits, die als cybernetic turn bezeichnete grundsätzliche Umorientierung der Realitäts- und Wirklichkeitskonzeption andererseits, werden etwas gänzlich Neues hervorbringen. Die Erweiterung unserer Denkstrukturen, unseres Bewusstseins, die Fortschritte der Converging Technologies (NBIC) werden bewirken, dass aus der globalen Vernetzung eine universale Vernetzung ersteht.

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